12 D F B - A K T U E L L 0 6 | 2 0 2 1 U N S E R T E A M Wenn Sie nicht stolz sind, wie stolz ist Ihre Familie? Wie stolz sind die Enkelkinder, dass der Opa nun Bun- destrainer ist? Es ist auf jeden Fall so, dass sie mehr und mehr verste- hen, was der Opa so treibt. Ich weiß noch, wie meine Enkelin sich gewundert hat, als sich in meinen ersten Wochen bei Bayern die Wünsche nach Selfies und Fotos gehäuft haben. Damals hat sie gefragt: „Boah, kennt der Opa die alle?“ Bei welchem Job ist die Belastung höher: als Bayern- Trainer oder als Bundestrainer? Ich sehe weder hier noch dort eine Belastung. Eine echte Last ruht auf Menschen in ganz anderen Positionen und Berufen. Für mich gilt das schon deswegen, weil es mir großen Spaß gemacht hat, Bayern-Trainer zu sein und es mir großen Spaß macht, Bundestrainer zu sein. Natür- lich gibt es Unterschiede. Die Taktung bei den Bayern war enorm, gefühlt haben wir alle drei Tage gespielt. Auch durch Corona hatte ich so gut wie nie die Gele- genheit, meine Familie zu sehen. Dieser Ausgleich hat bei den Bayern weitgehend gefehlt, das ist jetzt anders – und das ist gut! Auch haben wir jetzt weniger Spiele. Wobei die Rechnung nicht aufgeht, dass weniger Spiele gleichbedeutend mit mehr Freizeit sind. Als Bundestrai- ner habe ich viele Termine, die ich als Bayern-Trainer nicht hatte. Der Austausch und die Absprachen mit den Vereinstrainern der Spieler sind dafür nur ein Beispiel. Spiel- und Spieler-Beobachtungen kommen hinzu, außerdem will ich nah an den U-Mannschaften des DFB sein und einen engen Draht zu den U-Trainern haben. Und natürlich haben wir häufig Meetings und Workshops innerhalb des Trainerteams der A-Mannschaft. Ihnen haftet das Image des „netten Hansi“ an. Wenn es Zweifel an Ihrer Eignung als Bayern-Cheftrainer gab, dann bezogen diese sich fast immer auf die Frage, ob ein so emphatischer Mensch in der Lage ist, einen Kader mit Superstars und Super-Egos im Griff zu haben. Ich bin in der Lage, die Dinge, die ich für richtig halte, durchzusetzen. Dabei kann ich auch mal laut und unge- mütlich werden, das ist aber nicht mein bevorzugter Weg. Entscheidend ist, dass man eine gewisse Klarheit hat, dass man weiß, was man möchte. Wenn ein Trainer unsicher und nicht überzeugt ist, kann er auch nicht überzeugend sein. Diese Klarheit schließt aber nicht aus, dass man einen guten Umgang hat, dass man res- pektvoll ist und sich in das Gegenüber hineinversetzen kann. Mir ist der Sportler wichtig, der Fußballer, ich sehe aber immer auch den Menschen. Wenn ich als der „nette Hansi“ gelte, ist das für mich ein Kompliment – und kein Makel. Was meine Zeit in München betrifft, kann ich sagen, dass es für mich eine schöne Bestätigung ist, dass ich mit dieser Art Erfolg hatte. Das Feedback, das ich von den Spielern erhalten habe, war überragend. Es gab einige Spieler, die mich haben wissen lassen, wie sehr sie diese Art des Umgangs geschätzt und dass sie so etwas noch nie erlebt haben. Die gegenseitige Wert- schätzung war ein großer Faktor der Erfolge. Der gemein- same Wille und die Geschlossenheit, die diese Mann- schaft ausgezeichnet haben, hatten viel auch damit zu tun, wie wir als Gruppe miteinander umgegangen sind. Diesen Geist wollen und werden wir nun auch bei der Nationalmannschaft etablieren. Sie galten immer als Förderer der Jugend, auch auf- grund Ihrer Vergangenheit als DFB-Sportdirektor. Nun sagen Sie: Die aktuell beste Mannschaft spielt. Man kann dies als Abkehr vom Jugendtrend interpretieren. Sehen Sie hierin eine Gefahr, nimmt es jüngeren Spie- lern die Perspektive, wenn sie wissen, dass die Tür ein Stück weit geschlossener ist? Die erste Länderspielphase hat doch schon gezeigt, dass wir natürlich auch auf die Jugend setzen. Grundsätzlich gilt: Wenn ich von zwei Spielern dieselbe Leistung bekomme, nehme ich tendenziell den Spieler, der jün- ger ist, ganz einfach, weil ich von ihm in Zukunft noch mehr erwarten kann, weil er eine Entwicklung noch vor sich hat. Wobei es keineswegs so ist, dass ältere Spieler sich nicht noch entwickeln und besser werden können. Miroslav Klose ist dafür ein Beispiel. Es wäre fatal gewe- sen, wenn wir ihm, als er 30 war, gesagt hätten, dass wir ihn aus Altersgründen nicht mehr nominieren, weil wir den Weg für jüngere freimachen wollen. Ich bin ein Freund von Jugend, ich bin aber in erster Linie ein Freund von Leistung. Bei mir wird es immer so sein, dass der bessere Spieler spielt. Bis zur WM ist nicht mehr viel Zeit. Was muss in den kommenden Monaten passieren, damit Deutschland, die Qualifikation vorausgesetzt, in der Lage ist, in Katar gegen Mannschaften wie England und Frank- reich zu gewinnen? Wichtig sind Konstanz und Stabilität. Stabile Mannschaf- ten zeichnen sich meist durch die Achsen im Zentrum aus. Das geht über den Torwart, die Innenverteidiger, den Sechser und Achter bis in die Spitze. Die Kreativität, die Fantasie und die Dynamik, die auf den Außen bei uns vorhanden sind, hängen in ihrer Entfaltung sehr davon ab, ob wir im Zentrum stabil sind. Für diese Sta- bilität benötigen Spieler und Mannschaften Vertrauen, und dieses Vertrauen gewinnt man durch gute Leistun- gen und gute Ergebnisse. Haben Sie für die Weltmeisterschaft im nächsten Jahr eine Zielvorgabe? Ich bin immer vorsichtig mit solchen Dingen, zumal wir noch gar nicht qualifiziert sind. Aber klar: Ich habe keine Zweifel, dass wir das schaffen. Und dann? Aus der Erfah- rung der vergangenen Weltmeisterschaften weiß ich, dass so ein Turnier mehrere Phasen hat und ab dem Viertelfinale so richtig anfängt. Wenn man unter den letzten acht steht, ist der riesige Druck weg. Es bis dort- hin zu schaffen, ist das, was man erwarten kann, was man erwarten muss. Alles, was danach kommt, sind Zugaben. Ich erinnere mich noch daran, wie sich in Bra- silien nach dem Spiel gegen Algerien mit dem Einzug ins Viertelfinale bei uns einige Dinge gelöst haben und sich eine neue Dynamik ergeben hat. Nach dem Einzug ins Viertelfinale waren alle Versagensängste weg, die Gedanken waren nur noch positiv. Wir wollen dabei- bleiben, wir wollen weiter, wir sind noch nicht fertig. Wenn wir wieder in eine ähnliche Situation kommen, traue ich uns im kommenden Jahr viel zu. Die Mann- schaft hat Qualität, die Mannschaft ist auf einem guten Weg – verstecken müssen wir uns nicht. I N T E R V I E W Steffen Lüdeke F O T O S (1) Thomas Böcker/DFB, (2–3) GES/Markus Gilliar