12 D F B - A K T U E L L 0 4 | 2 0 2 1 U N S E R T E A M mich doch noch ärgere, aber das geht schnell vorbei und ist nichts, das nachhallt. Diesen Gefallen tue ich den anonymen Hetzern nicht. Es hilft auch, wenn man solche Situationen schon mal erlebt hat. Noch einmal: Seriöse Kritik muss man zulassen, sie annehmen und reflektieren, man sollte sich aber in seiner Entschei- dungsfindung in erster Linie von den eigenen Zielen und Überzeugungen leiten lassen. Die Kritik darf den Blick nicht trüben auf das, was man erreichen will. Als Trainer weiß man auch, dass vieles öffentlich hinterfragt wird; das muss auch so sein, erst recht, wenn man die Ehre hat, Deutschlands beste Fußballer zu trainieren. Mir ist bewusst, dass meine Entscheidungen nicht immer jeden Einzelnen überzeugen können. Nach der Europameisterschaft ist Schluss für Sie als Bundestrainer, das haben Sie bereits im März ange- kündigt. Haben Sie schon früher mal den Impuls ver- spürt, sofort hinzuwerfen und zu sagen: „Dann lass‘ ich es halt, dann macht es doch besser“? Wir reden viel in unserem Team. Diskutieren kontrovers, machen uns Gedanken, überlegen viel. Dann entschei- den wir uns für einen Weg. Diesem Weg folgen wir dann, weil wir überzeugt sind, dass er erfolgversprechend ist. Das ist der wichtigste Parameter bei allem: der eigenen Überzeugung zu folgen. Wir Trainer sind jeden Tag mit dem Team zusammen und wissen am besten über die Stärken und Schwächen Bescheid. Jemand, der von außen draufschaut, kann das nicht immer so konkret und neutral beurteilen. Insofern war es nie so, dass eine Kritik von außen mich so sehr getroffen hätte, dass sie mich zu Konsequenzen oder einer Kurzschlusshandlung hätte führen können. Trotzdem haben Sie für sich entschieden: Ab Sommer soll es jemand anderes machen. So eine Entscheidung fällt man ja nicht, weil mal Kritik auf einen niederprasselt. Im vergangenen Jahr hatte ich mir ganz unabhängig vom Spanien-Spiel vorgenommen, mir konkret Gedanken zu machen: Wo stehen wir? Wo stehe ich? Was möchte ich? Das habe ich gemacht und bin zu dem Entschluss gekommen, dass nach dieser EM die Zeit gekommen ist, den Stab weiterzureichen. 15 Jahre als Bundestrainer sind eine lange Zeit im schnell- lebigen Fußballgeschäft. Nach der Europameisterschaft kommt die Zeit der Erneuerung. Für die Mannschaft, aber auch für mich. Aber das ist jetzt nicht mein Thema. Jetzt gilt es, die Kräfte für die EURO zu bündeln und ein gutes Turnier zu spielen. „ I C H B I N M I R S I C H E R , D A S S W I R M I T U N S E R E M K A D E R E I N E G U T E M I S C H U N G H A B E N , E I N E M A N N S C H A F T, D I E F L E X I B E L I S T U N D D I E V E R S C H I E D E N E N VA R I A N T E N U N D I D E E N U M S E T Z E N K A N N .“ „W I R M Ü S S E N M U T I G S E I N , W I R M Ü S S E N U N S T R A U E N U N D W I R M Ü S S E N D A S R I S I K O E I N G E H E N , F E H L E R Z U M A C H E N . A N G S T D Ü R F E N W I R N I C H T H A B E N , A N G S T L Ä H M T.“ Mit Ihrer Erfahrung aus inzwischen sechs Turnieren als verantwortlicher Cheftrainer: Was ist dafür ent- scheidend, welche Fehler dürfen nicht gemacht wer- den, wenn das Turnier zu einem Erfolg werden soll? Sich auf das Vermeiden von Fehlern zu konzentrieren, ist der falsche Ansatz. Wenn wir es auf den Platz bezie- hen, gilt dies umso mehr. Wir müssen mutig sein, wir müssen uns trauen und wir müssen das Risiko eingehen, Fehler zu machen. Angst dürfen wir nicht haben, Angst lähmt. Ansonsten verleiht mir meine Erfahrung eine gewisse Ruhe. Aus den Fehlern, die wir vor drei Jahren in Russland gemacht haben, haben wir gelernt. Wir wol- len eine Mannschaft, die vor Energie und Spielfreude sprüht, die als Einheit auf dem Platz steht, eine Mann- schaft, mit der sich die Fans identifizieren. Und das ist bislang absolut zu spüren. Die Spieler haben echt Bock, für die Nationalmannschaft zu spielen, sind bereit, alles zu investieren. Wichtig ist es bei einem Turnier, dass man jedes Spiel konzentriert angeht. Wie gesagt: Jedes Spiel ist ein K.o.-Spiel, das erste gegen Frankreich sowieso. In der Vergangenheit war es häufig so, dass erfolgreiche Mannschaften von einem überzeugenden Auftakt durch das Turnier getragen wurden. Das ist unser Ziel. Wenn wir dann in einen guten Flow kommen, ist für unsere Mannschaft alles möglich. Nach der WM 2018 wurde über eine Änderung des Spielstils gesprochen, über eine Abkehr vom Ballbe- sitzfußball. Was glauben Sie, welche Art des Fußballs wird sich bei der EM durchsetzen? Die Diskussion lief damals in eine falsche Richtung, schon allein deswegen, weil Ballbesitz erforderlich ist, um ein Tor zu erzielen. In der Zeit nach der WM gab es Rückschläge, es gab aber auch viele Spiele, in denen wir gezeigt haben, dass wir neue Möglichkeiten haben. Große Möglichkeiten. Wir haben mehr Tempo, können damit mehr Umschaltmomente kreieren. Uns hat die Stabilität gefehlt, die Konstanz. Daran haben wir gear- beitet, daran arbeiten wir auch jetzt jeden Tag. Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem Kader eine gute Mischung haben, eine Mannschaft, die flexibel ist und die verschie- denen Varianten und Ideen umsetzen kann. Und das müssen wir. Wir können nicht ins Turnier gehen und davon ausgehen, dass wir Spiel für Spiel 90 Minuten lang mit demselben Ansatz erfolgreich sein können. Aber wir können erfolgreich sein – wenn wir klug sind, wenn wir leidensfähig sind und wenn wir unsere Mög- lichkeiten voll ausschöpfen. I N T E R V I E W Arne Leyenberg F O T O S (1) Thomas Böcker, (2–4) GES/Markus Gilliar