20 D F B - A K T U E L L 0 2 | 2 0 2 1 U N S E R T E A M Sie andererseits aber manchmal auch den Gedanken, was alles möglich gewesen wäre, wenn Sie schon frü- her noch besser ausgebildet worden wären? Der Gedanke war oft da. Ich habe auch mit meiner Freun- din schon häufiger darüber geredet. Und das Ergebnis ist, egal von welcher Seite wir es betrachtet haben, immer das gleiche: Dann wäre ich nicht Profi geworden. Ich war gerade in meiner Jugend ein ziemlicher Freigeist und ich glaube, das strenge, durchgetaktete und kom- plett auf Fußball ausgerichtete Leben in einem Internat wäre nicht das richtige für mich gewesen. Ich hätte Erfahrungen und Fehler nicht gemacht, die mir gehol- fen haben, der zu werden, der ich heute bin. Ich hatte einfach ein komplett normales Leben. Vielleicht hätte ich sonst mit 22, 23 gesagt: „So, Alter, und was hast du vom Leben bisher gehabt?“ Ich hatte damals den Fokus einfach noch nicht so wie heute, mir waren auch andere Dinge wichtig. Und das war für mich gut so. Ich habe auf der anderen Seite aber auch großen Respekt vor den Spielern in einem Nachwuchsleistungszentrum; dieser Weg ist bestimmt nicht leichter als der, den ich gegan- gen bin. Aber er führt häufiger zum Ziel. Haben Sie den Eindruck, dass Sie es schwerer haben, weil man Leuten, die man nicht kennt, erst mal etwas mehr Misstrauen entgegenbringt als Leuten, die man schon in den U-Teams oder der Bundesliga gesehen hat? Einfacher macht es das auf jeden Fall nicht. Die meis- ten Leute sehen ja meine Spiele in Italien oder in der Champions League nicht und wenn dann mal Nach- richten nach Deutschland schwappen, dann, weil ich ein Tor geschossen oder eins aufgelegt habe … … was ja zum Glück nicht so selten passiert. Ja, zum Glück (lacht). Was ich meine, ist: Die Erwar- tung, die die Leute an mich haben, ist die, dass ich knipse oder vorlege. Passiert das nicht, heißt es: „Ey, der Junge ist doch angeblich in der Serie A so krass unterwegs, warum macht der das nicht in der Nationalmannschaft? Ist der vielleicht gar nicht so gut?“ Würde ich in der Bundesliga spielen, hätten viele ein vollständigeres Bild von mir. Atalanta Bergamo ist in den vergangenen Jah- ren zu einem enorm spannenden Team gewor- den. Wie ist dies zu erklären? Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Ich glaube, der entscheidende ist, dass wir seit vier Jahren weitgehend die gleiche Truppe haben. Im Jahr geht vielleicht mal einer, ansonsten ist die Stammelf beisammengeblieben. Das ist für eine Mannschaft fast schon essenziell, um erfolgreich zu bleiben. Wir sind ein eingeschweißtes Team, ich kenne jeden meiner Mitspieler in- und auswendig, weiß, welche Stär- ken er für mein Spiel mitbringt und welche Schwächen ich eventuell ausgleichen muss. Das hilft unheimlich. Wir spielen immer das gleiche System und trotzdem können sich die Gegner bislang nicht darauf ein- stellen, weil wir einen ganz anderen Stil spielen als alle anderen. Wir sind für keinen wirklich zu greifen. Wie sieht dieses System aus? Wir spielen ein enorm hohes Pressing, teilweise Eins- gegen-Eins über das gesamte Feld. Durch diese hohe Verteidigungslinie riskieren wir enorm viel Platz in unse- rem Rücken, entsprechend sind wir teilweise auch anfäl- lig. Wenn wir hoch pressen und den Ball erobern, sind wir aber früh mit vielen Spielern im gegnerischen Strafraum. Das macht es für den Gegner sehr schwierig. Bei uns ist immer was los (lacht), wir bieten immer Spektakel. Unser Trainer sagt, er gewinnt Spiele lieber mit 5:4 als mit einem langweiligen 1:0. Das sieht man auch auf dem Platz. Im vergangenen Jahr wurde Bergamo zu einem Corona- Hotspot und Sie so eine Art Berichterstatter vor Ort. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Und wie haben Sie sie überstanden? Rückblickend war es die schwierigste Zeit meines Lebens. Acht Wochen in der eigenen Wohnung eingesperrt zu sein, täglich Berichte zu lesen, dass Bergamo eine Geis- terstadt geworden sei, Nachrichten von Familie und Freunden zu bekommen, die wissen wollten, ob wir noch leben – das war schlimm. Wenn ich daran denke, dass wir in dieser Zeit an dem Ort waren, an dem es zu dem Zeitpunkt vielleicht am schlimmsten auf der Welt war, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Diese Zeit hat mich gelehrt, was wirklich wichtig ist im Leben, nämlich seine Liebsten um sich herum zu haben und zu wissen, dass sie gesund sind. Alles andere ist zweit- rangig. Ich werde diese Zeit nie vergessen und will so etwas nie wieder erleben. Und doch glaube ich, dass ich gestärkt aus ihr hervorgegangen bin. Mein Blick aufs Leben ist auf jeden Fall ein anderer geworden. Wie meinen Sie das? Ich kann vieles jetzt ganz anders wertschätzen, vor allem die kleinen Dinge. Wir leben ja in einer absoluten Leis- tungsgesellschaft, in der es immer um „Höher, schneller, weiter“ geht und in der man im Grunde nie zufrieden ist. Wenn du aber acht Wochen mehr oder weniger einge- sperrt bist, deine Familie und Freunde nicht sehen kannst, dann merkst du, wie besonders es schon ist, einfach mit Freunden in einem Café zu sitzen, einen Espresso zu trin- ken, sich zu unterhalten und eine gute Zeit miteinan- der zu haben. Das habe ich sonst immer als selbst- verständlich hingenommen, so geht es mir bei vielen vermeintlich normalen und alltäglichen Dingen. Was empfinden Sie, wenn Menschen heute die Gefahr oder gar die Existenz des Virus leugnen? Da fällt mir, ehrlich gesagt, nichts zu ein. Da könnte ich mich jetzt ganz schnell in Rage reden. Ich war an einem Tag für einen Test in Bergamo im Krankenhaus, da lagen seitlich vom Eingang die Leichensäcke gestapelt, weil keiner wusste, wohin mit ihnen. Dann bekommt man noch mal ein ganz anderes Bild als Leute, die weit davon entfernt leben und damit keine Berührung hatten. Die sollten sich, verdammt noch mal, glücklich schätzen, statt wider besseres Wissen zu leugnen, dass es das Virus gibt oder dass es gefährlich ist. Dafür habe ich kein Verständnis. Wie haben Sie es geschafft, im letzten Jahr emotional im Gleichgewicht zu bleiben? Das war schon teilweise schwierig. Ich habe zum Jahr 2