61 wachsen, das prägt. Und der Gedanke, dass irgendwann vielleicht die Mauer fällt, war weit, weit weg.“ Dann war sie plötzlich weg. Und die Orientierung auch. „Ich war glücklich“, sagt Sammer über sein Leben im Osten. „Und doch hätte es mich unglücklich gemacht, nicht diesen Weg zu gehen.“ In den Westen, in die Bundesliga. Am 15. November 1989 fehlte der DDR in Österreich ein Punkt, um sich zum zweiten Mal nach 1974 für die WM zu qualifizieren. Doch der Mauerfall, den die Spie- ler im Trainingslager bei Leipzig am Fernseher erlebten, verschob alle Koordinaten. So standen sie sechs Tage später in Wien neben sich und verloren 0:3. Und dann saß plötzlich auf der Ersatzbank neben dem kurz vor Ende ausgewechselten Sammer ein Mann mit einem Fotografen-Leibchen. D O C H N I C H T Z U B AY E R „Ich bin hier von Bayer Leverkusen, im Auftrag von Herrn Calmund“, sagte er zu Sammer. „Ich soll dich, den Thom und den Kirsten holen. Die von den anderen Vereinen, die ganzen Blinden, die stehen da vorn und warten.“ Der falsche Fotograf hatte Erfolg, Thom kam im Winter, Kirs- ten und Sammer sollten im Sommer folgen. Doch als Calmund die beiden vor Weihnachten zum Kurzurlaub in Prien am Chiemsee einlud, hatte Sammer schon, „ich kann bis heute nicht erklären, warum“, das Gefühl: Lever- kusen, da will ich nicht hin. „Aber ich hatte unterschrie- ben, ich wäre natürlich gegangen.“ Dann, beim Wasser- kopfball im Hotelpool, „sagte ich zu Calli: Ich möchte nicht mehr. Er sagte dann noch im Wasser: Schade. Aber ich zerreiße den Vertrag, und du bist frei.“ Sammer fin- det das noch heute „völlig verrückt.“ So landete er in Stuttgart. Keine Biografie verkörpert die deutsche Fußball-Einheit wie seine. Als Einziger bestritt Sammer das letzte Spiel der DDR und das erste des vereinten Landes. Kirsten, Doll, Thom waren im September 1990 erst gar nicht angereist, sie zogen das Training mit ihren neuen West- Klubs dem Trainingslager eines sterbenden Staates vor. „Nur ich Idiot bin da hin“, sagt Sammer lachend. „So habe ich das jedenfalls empfunden. Im Nachhinein bin ich natürlich dankbar, dass kein Flieger mehr zurück- ging.“ Beim 2:0-Sieg in Brüssel schoss er beide Tore. Drei Monate später gewann er im Team des Weltmeis- ters 4:0 gegen die Schweiz. Es war der Tag, als aus einer beendeten DDR-Karriere eine beginnende Weltkarriere wurde – durch einen Spieler, der den ganzen Platz zu seinem Revier machte, als wäre für ihn auch im Spiel die Mauer gefallen und die Freiheit gekommen. „Diese Räume, wenn der Gegner nicht schnell genug umschal- tet oder die Abstände nicht stimmen, zu sehen und hin- einzugehen“, das war sein Spiel. In einem Wort ausge- drückt, nennt er es „Raumfinder“. Eine dann aber viel zu kurze Weltkarriere. Sammer spielte nur eine WM, 1994, und die verlief enttäuschend, beim Aus gegen Bulgarien fehlte er mit Wadenproblemen. Die WM 1990 verpasste er aus historischen, die 1998 aus gesundheitlichen Grün- den. Eine Knie-Operation bedeutete das Karriereende. „Die Wende kam einen Tick zu spät“, sagt er, „das Ende leider ein großes Stück zu früh.“ S T O L Z U N D D A N K B A R Von den Hügeln der Umgebung kann man die Berge an diesem Oktobertag im Voralpenland verlockend glit- zern sehen. Doch Bergtouren oder andere alpine Unter- nehmungen sind für Sammer keine Option. Er fährt viel Rad, empfiehlt „wunderbare Strecken“ im Isartal. Und schwärmt vom Aqua-Jogging, das er im Pool der Woh- nung auf Mallorca für sich entdeckt hat, als Training ohne Gefahr fürs Knie. Als Spieler „auf dem Höhepunkt des Schaffens“ aufhören zu müssen, „so etwas lässt einen entweder verzweifeln oder kämpfen“, sagt er. Der Kämpfer Sammer sah dann den Trainerjob als Chance, der „großen Liebe Fußball“ wieder etwas näher zu sein, wollte in die Nachwuchsarbeit, war dann plötzlich im Abstiegskampf gefragt – und zwei Jahre später Meis- tertrainer. Die Zeit als Trainer und Sportdirektor, „der Ursprung all dieser Schritte war meine Überzeugung: Wenn man etwas erreichen will, muss man auch sprin- gen“, sagt Sammer. „Ich bin sehr stolz auf diesen Weg. Und auch dankbar.“ Ein schönes Schlusswort, bevor es zum Metzger und zum Rasenmähen geht und, einen Tag später, auf die übliche Samstagstour, die dem uralten Rhythmus des Fußballers entspricht. Der Reiseplan als externer Bera- ter des BVB: Frühstück, Flug nach Köln, Auto ins Stadion, kurz vor Schlusspfiff zurück zum Airport, zum Abend- brot wieder daheim. Die Betätigung beim BVB gefällt ihm gut und passt in sein heutiges Leben. „Wenn du in der Verantwortung bist, beschäftigt dich eine Nieder- „DIE WENDE KAM EINEN TICK ZU SPÄT, DAS ENDE LEIDER EIN GROSSES STÜCK ZU FRÜH.“ lage bis in die Nacht und den nächsten Morgen. Das muss ich nicht mehr haben.“ Zugleich macht es ihm „große Freude, den eigenen, mutigen Weg des BVB mit- zugestalten: nicht in der Hysterie der Nation sich als Bayern-Jäger wahrzunehmen, sondern mit einer völlig eigenen Identität aufzutreten.“ Doch hätte Sam- mer wohl nichts dagegen, eine siegreiche Jagd auf einen Serienmeister zu erleben, wie er sie schon einmal in Schwarz-Gelb aktiv mitgestaltet hat. Mit Dresden been- dete er 1989 die Serie von zehn Meisterschaften des BFC Dynamo. Seit jenem Meistertitel, seinem ersten, ist die räumliche Distanz zu Spiel, Rasen, Ball, Kabine mit jeder neuen Funktion gewachsen. Die Liebe zum Fußball blieb die- selbe. „Ich will weder operativ tätig sein noch Einfluss auf das Eigentliche nehmen“, sagt Sammer. „Ich will nur, dass wir jedes Spiel gewinnen.“ Dieser Wille, „das lebt und bleibt. Ich glaube: bis zum letzten Atemzug.“ T E X T Christian Eichler F O T O S (1–2) Thomas Böcker, (3) Picture Alliance/dpa, (4) Witters