„WENN MAN UNS ALS VORBEREITUNGSWELTMEISTER BEZEICHNET, DANN LIEGT DAS AUCH DARAN, DASS WIR OFT DA WAREN, WENN ES DARAUF ANKAM, DASS WIR LEISTUNG GEZEIGT HABEN, WENN ES GEFORDERT WAR. DARUM GEHT ES – UND DAS IST LETZTLICH AUCH EINE MENTALITÄTSFRAGE.“ uns kann er eine vergleichbare Rolle gerne noch mehr ausfüllen, auch ohne Binde. 2010 wurde Spanien mit Kurzpassspiel Weltmeister, Tiki-Taka. 2014 gewann Deutschland mit Ballbesitz- Fußball den Titel. 2018 setzte sich das französische Umschaltspiel durch. Welche Art Fußball wird 2022 zum Erfolg führen? Wir haben unsere Idee, wie wir erfolgreich sein wollen. Wir wollen den Gegner zu Fehlern zwingen. Die Art und Weise, in der wir das machen wollen, variiert und hängt auch davon ab, gegen welche Mannschaft wir spielen. Unser Ansatz kann sehr hoch sein, aber auch ein biss- chen tiefer. Wichtig ist zudem, dass wir im Ballbesitz einen Plan haben, dass wir wissen, welche Räume vor- handen sind und wie wir sie besetzen und bespielen. Wir benötigen Klarheit in unseren Aktionen, klare, sau- bere Pässe. Wir brauchen hohe Intensität und einen klaren Fokus, die Angriffe abzuschließen. Wichtig ist auch, eigene Ballverluste zu minimieren. Wir müssen risikofreudig sein; wir müssen aber kluge Entscheidun- gen treffen, wann es sinnvoll ist, ins Risiko zu gehen und wann nicht. Wenn wir all das gut umsetzen, bin ich mir sicher, dass wir bei der WM eine sehr gute Rolle spielen können. Wie man diesen Fußball dann bezeichnet – dar- über können sich gerne andere Gedanken machen. Hinter der Mannschaft, die 2014 Weltmeister wurde, lag ein langer, gemeinsamer Weg. Bastian Schwein- steiger, Philipp Lahm, Per Mertesacker und Lukas Podolski spielten seit 2004 in der Nationalmannschaft, hinzukamen die U 21-Europameister von 2009 um Manuel Neuer und Sami Khedira. Die Mannschaft hat mehrfach an einem Titel gekratzt und musste auch Rückschläge verkraften. Benötigen Weltmeistermann- schaften eine Historie? Gemeinsame Erfahrung zu haben, ist sicher kein Nach- teil. Die Spieler der Generation ‘95 um Jo Kimmich und Leon Goretzka spielen nicht ihr erstes großes Turnier, die Erfahrungen von der EM im vergangenen Jahr und der WM in Russland sind Teil der Entwicklung dieser Mannschaft. Ich sehe sie aber nicht als notwendige Vor- aussetzung. Es ist nicht so, dass ein Erfolg zwingend wahrscheinlicher wird, je länger der gemeinsame Weg ist. Als ich Ende 2019 den Trainerposten beim FC Bay- ern übernommen habe, hat sich in kurzer Zeit in der Mannschaft etwas entwickelt, ein spezielles Gefühl. Jeder Sieg hat das Selbstvertrauen wachsen lassen, wir sind immer dominanter aufgetreten und hatten irgend- wann das Selbstverständnis, dass wir den Platz als Sie- ger verlassen werden. So kann es nun auch mit der Nati- onalmannschaft werden, aber dabei spielt die Historie des Teams nur eine kleine Rolle. Wenn Deutschland bei einer WM antritt, wird die Mann- schaft traditionell zu den großen Favoriten gezählt. Wie nehmen Sie die Erwartungshaltung diesmal wahr? So extrem habe ich das 2010 und 2014 nicht empfun- den. Es war nicht so, dass wir in Südafrika von der Öffent- lichkeit als großer Favorit gehandelt wurden. 2014 hat man uns eine gute Rolle zugetraut, aber andere, die Spanier allen voran und die Südamerikaner, wurden höher gehandelt. Wie nehme ich es jetzt wahr? Wir wis- sen, dass die letzten beiden Turniere unterdurchschnitt- lich waren. Wir hatten dann viele gute Ergebnisse und auch wirklich gute Spiele. Das 0:1 gegen Ungarn und auch das 3:3 in England haben das gebremst, was sich langsam zu einer Euphorie hätten entwickeln können. Für die Öffentlichkeit gehören wir daher wahrscheinlich nicht zu den großen Titelkandidaten. Spielt das für Sie eine Rolle? Gar nicht. Nullkommanull. Es macht keinen Unterschied, wie Fans und Medien die Mannschaft sehen? Nein. Wichtig ist, wie wir die Mannschaft sehen, wie wir die Spieler sehen. Sie müssen uns Trainern vertrauen, unseren Ideen und Einschätzungen. Und sie müssen sich selbst vertrauen. Wie sind Ihre Erwartungen? Was muss die Mannschaft leisten, damit Sie die WM 2022 als Erfolg werten? Gibt es eine interne Zielvorgabe? Wir wollen das Maximum – und das Maximum bei der WM ist der Titel. Aber damit formuliere ich keine Erwar- tung. Erwartungen habe ich an die Art und Weise, wie wir Fußball spielen, daran, wie wir auftreten. Ich erwarte, dass wir es schaffen, unser Potenzial auf den Platz zu bringen; ich erwarte, dass die Spieler alles dafür tun. Von uns Trainern erwarte ich, dass wir den Spielern dabei helfen. Jogi Löw hat immer davon gesprochen, dass die Tur- niere für ihn die schönsten Zeiten sind; er hatte die Mannschaft um sich, konnte alles beeinflussen. Je näher die Spiele rückten, desto ruhiger wurde er, weil er wusste, seinen Teil geleistet zu haben. Wird es Ihnen ähnlich gehen? Das kann ich mir gut vorstellen, ja. Ich freue mich auf den sportlichen Wettbewerb, freue mich auf die Her- ausforderungen, die uns erwarten und darauf, zeigen zu können, dass wir in der Lage sind, diese zu lösen. Für jeden Fußballer und für jeden Trainer ist eine WM das Größte überhaupt – ich kann es kaum erwarten, dass es endlich losgeht. I N T E R V I E W Steffen Lüdeke F O T O S (1–3) DFB/Thomas Böcker, (4) Philipp Reinhard 17 Alle Infos zum deutschen Team bei der Weltmeisterschaft in Katar gibt es auf wm.dfb.de.