14 D I E M A N N S C H A F T D F B - J O U R N A L 0 4 | 2 0 2 1 war immer so“, sagt Klose. „Selbst als er jung war, war er immer derjenige, der in der Mannschaft am lautesten gesprochen hat.“ An einen schüchternen Müller vermag sich Klose nicht zu erinnern, eher an einen stets schlag- fertigen: „Er war nicht derjenige, der in der Kabine gewar- tet hat, bis man ihn abholte.“ Und nach den Spielen, bei der Fahrt im Mannschaftsbus, hatte Müller sofort die ers- ten Kommentare und Spieldaten per Handy eingeholt und entfachte die ersten Fachdiskussionen mit Blick auf das Spiel kurz davor sowie bald danach. Müller ist das Paradebeispiel des mündigen und verant- wortungsbewussten Profis. Werden zum Beispiel Stan- dards oder Laufwege einstudiert, verlangt Müller Erklä- rungen. „Er will wissen, warum und wieso“, sagt Klose. Sorg nennt Müller „sehr aufmerksam“, er suche immer wieder den Austausch mit den Trainern. Wird ein Ablauf besprochen, fragt Müller nach Eventualitäten: Was ist dann, wenn es so oder so kommt? Wehe, es sind im Trai- ning drei Kontakte vorgeschrieben und ein Gegner bricht die Regelung: „Vier Kontakte!“ Verzählt sich ein Trainer im Übungsspiel beim Zwischenstand, liefert Müller prompt die Korrektur. Für Sorg ist Müller „Mister letztes Wort.“ Flick sagt: „Thomas ist immer eine Herausforde- rung durch seine Art. Er ist sehr schlagfertig und hat immer etwas auf Lager.“ Allerdings bringe sich Müller – sein auch bei Fehlpässen eines Mitspielers hochge- streckter Daumen ist das äußere Zeichen dafür – stets „sehr positiv“ ein. U N H E I M L I C H S C H L A U Diese Eigenschaft schiebt auch Hermann Gerland (67), weil sie ihm so wesentlich ist, sogar per WhatsApp nach, nachdem er vorher den Fußballspieler und Menschen Müller eingehend am Telefon beschrieben hat. Der heu- tige DFB-Scout förderte Müller beim FC Bayern und ver- hinderte, dass dieses Talent 2008/2009 nach Hoffen- heim weitergereicht wurde. In seiner damaligen Einschätzung darf sich Gerland längst bestätigt fühlen, Müller „eine Weltkarriere“ attestieren und zusammen- fassen: „Er ist ein Superstar geworden.“ Gerland zählt Müllers Vorzüge auf: „Er hat immer Tore gemacht, war immer laufstark und weiß, wie er sich wegschleichen muss.“ Gerade wegen dieser letzten Qualität würdigt Klose Müller als „unheimlich schlau.“ Wie Klose arbeitete Gerland in der vorigen Saison dem Chef Flick als Co-Trainer zu; er hatte diesen Job über viele Jahre beim FC Bayern, saß hinter Müller im Mannschafts- bus und reagierte schon mal genervt, wenn die Dauer- beschallung vor ihm gar nicht verstummte: „Müller, halt die Luft an!“ Und wenn Müller, was selten passierte, nicht da war, „fehlte etwas.“ Irgendwann taufte Gerland Müller „Radio Müller“. Es ist eine liebevolle Namensgebung. „Thomas ist authentisch geblieben, locker und selbstbe- wusst, menschlich überragend“, sagt Gerland, „ein super Junge.“ Flick formuliert es so: „Mit Thomas ist es immer lustig. Du weißt überall, wo er ist. Du kannst ihn nicht verstecken. Du weißt, dass Thomas auch da ist.“ Der Bundestrainer ist froh über Müllers Präsenz in seiner Gruppe. „Thomas hat eine überragende Karriere und ist auch in diesem Alter noch immer bestrebt, sich ständig zu verbessern – nicht nur sich persönlich, sondern auch die Mannschaft.“ So fragt Müller den Trainer gelegent- lich, was er denn besser machen könne. Da geht es dann um die absolute Konzentration und die Fokussierung auf den nächsten Moment. In den Spielen verrät Müllers Ges- tik – der nach vorne oder hinten rudernde Arm – immer dessen Anweisungen an die Mitspieler, in der National- mannschaft wie im Verein. „Er spricht sehr viel“, sagt Flick, „er coacht im Spiel sehr gut.“ Ihm gefällt die Art, „wie Thomas das Miteinander fördert“, indem er „jeden neuen Spieler bei der Nationalmannschaft willkommen heißt." P E R F E K T E R G O L D G R Ä B E R Kai Havertz (22) und Florian Wirtz (18) sind die jungen Spieler, die auch Müllers Position einnehmen könnten. Ist er für sie Kollege, Kumpel oder Konkurrent? Oder gar Vorbild? Der Bundestrainer vermutet, dass diese jungen Spieler zu Müller aufschauen, schließlich sei der einer der erfolgreichsten Fußballer in Deutschland. „Nicht nur mit seiner Ausstrahlung, die er auf diese Jungs generell hat, sondern auch mit seiner Trainingsauffassung“ sei Müller ein Vorbild, betont Flick: „Er selbst gibt alles und erwartet diese Einstellung auch von den anderen.“ Jetzt kommt ein spontanes, zweimaliges „Ja! Ja!“ vom DFB- Cheftrainer: Müller rügt die Mitspieler, wenn sie nicht so trainieren wie gewünscht: „Bitte, Leute, das ist nicht die Qualität, die wir brauchen.“ Die Kritik wird allerdings sehr feinfühlig gesetzt. „Er kann das mit seiner Art sehr gut“, sagt Flick. Müller schreit die anderen nicht an, „er gibt gute Kommandos.“ Zum Spielertrainer wurde Mül- ler deshalb ausgerufen, als er in den zuschauerlosen Spielen in den Arenen mit seinen Rufen und Ansagen besonders deutlich zu vernehmen war. Müller selbst, so stellt er klar, orientiert sich auf dem Platz immer am System, an den Vorgaben des Trainers, an seinen Aufgaben für die Mannschaft „und wie ich mich am besten für den Erfolg einbringen kann.“ Als Anarchist des Spiels mag er sich nicht komplett begrei- fen, aber diese besondere Unberechenbarkeit, geboren aus dem Gefühl für Zeit und Raum, ist seine große Stärke, dieser Spürsinn. „Als Goldgräber wäre er der richtige Mann“, sagt Flick und grinst, „er würde immer an die richtige Stelle gehen.“ Um den Goldpokal der WM geht es 2022. „Ich freue mich auf die WM, auch wenn es sich in der Vorweih- nachtszeit etwas komisch anfühlen wird“, sagt Müller. Die DFB-Delegation für Katar schätzt er als „spielerisch starkes Team, das voll motiviert das WM-Jahr angehen wird.“ Müller denkt an Russland 2018 sowie die EM in diesem Jahr und weiß, dass da etwas gutzumachen ist. Die jüngsten sieben Nonstop-Siege unter Flick haben die mannschaftsinterne Stimmung gesteigert, als „her- vorragend“ empfindet sie Müller. „Es ist alles möglich“, sagt er mit Blick auf die Weltmeisterschaft, „aber es liegt noch viel Arbeit vor uns.“ Als „grundsätzlich optimisti- scher Mensch“ ist er natürlich optimistisch. T E X T Karlheinz Wild F O T O S (1–2) Philipp Reinhard, (3) Getty Images/Alexander Hassenstein, (4) GES/Marvin Ibo Güngör, (5) GES/Markus Gilliar, (6) Picture Alliance/dpa/Christian Charisius