17 D ie Vermutung ist, dass Joachim Löw sich selbst überraschte, als er nach der WM 2014 in sich hineinhorchte und etwas Unvermutetes fest- stellte. Vor dem Turnier in Brasilien hatte sich Löw auf ein Gedankenexperiment eingelassen und den Versuch unternommen, sich die eigene Zukunft als Weltmeister vorzustellen. Wie sicher er sei, auch als Weltmeister Bundestrainer bleiben zu wollen, war Löw gefragt wor- den. Löw hatte kurz gezögert, unüberlegt war seine Ant- wort nicht. Genau sagen könne er es nicht, sagte der Bundestrainer, aber möglicherweise sei die Motivation in EM-Qualifikationsspielen gegen Gibraltar und Geor- gien nicht mehr ganz so hoch, wenn man zuvor als Trai- ner zuvor Weltmeister in Brasilien geworden war. Als man Weltmeister war, war dann alles anders. Nicht sofort, ein wenig Zeit hat Löw benötigt, er fühlte sich leer; neue, lohnende Ziele waren nicht sofort zu erken- nen. Dann aber spürte er, Überraschung, das Gegenteil dessen, was er vermutet hatte. Nämlich: riesige Motiva- tion. Und Löw wunderte sich über Löws Gedanken: Her mit Gibraltar und Georgien, auf geht’s, pack‘ ma´s! Ein wenig kann man sich wundern, dass Löw sich wunderte. Wundern darüber, dass der Bundestrainer sich selbst nicht besser kannte. Denn den bequemen Weg ist er selten gegangen. Nicht bei der Besteigung des Kilimandscharo, nicht als er beim VfB Stuttgart vier Tage vor Saisonbeginn über Nacht vom Co- zum Cheftrainer wurde, nicht als er später sein Glück in der Türkei versuchte. Und bequem, das wäre ein Rücktritt als Weltmeister ja gewesen. Löw hat nach dem Triumph von Rio natürlich gewusst, wie schwer es ist, auf dem Zenit zu bleiben, die Leistungen und den Erfolg zu bestätigen. Aber genau das hat ihn gereizt. Ihn hat nicht interessiert, dass er sein Denkmal damit der Wit- terung aussetzt; ihn haben die Möglichkeiten interessiert, nicht die Risiken. Er hat seine Motivation gespürt, er hat die Fähigkeiten seiner Spieler gesehen, die Optionen der Mannschaft. Für ihn war klar: Der Zenit dieser Mannschaft muss kein Punkt sein, er kann zur Linie wachsen. C O N F E D - C O U P 2 0 1 7 Sieben Jahre später ist klar, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat. Es gab weitere Höhepunkte, allen voran der Gewinn des Confed-Cup 2017, doch bei den großen Turnieren, bei der EM 2016, der WM 2018 und der EM 2020 gewannen andere. Und so hatten die Fragen, die Löw auf seiner letzten Pressekonferenz als Bundestrai- ner zu beantworten hatte, häufig einen negativen Ansatz. wurde Löw zum Beispiel, welche der Niederlagen – es waren nur 34 in 15 Jahren – ihn am meisten schmerzen würde. Löw überlegte kurz und fand eine Antwort, die bei Buchmachern eine hohe Quote gehabt hätte. Er wählte nicht die Halbfinal-Niederlage bei der EM 2012 gegen Italien, er wählte auch nicht die das Vorrundenaus bei der WM 2018 besiegelnde 0:2-Niederlage gegen Südkorea oder eben das 0:2 gegen England, das er vor wenigen Stunden hatte hinnehmen müssen. Die schlimmste Nie- derlage für den Bundestrainer war: 2016 gegen Frankreich. Erfolg ist ein Abfallprodukt von Leistung – diesen schö- nen Satz hat Markus Weise gesagt, der frühere Leiter Kon- zeptentwicklung der DFB-Akademie. Und was die Leis- tung angeht, so würde Löw wohl auch sagen, war die Mannschaft 2016 auf ihrem Höchststand. Nicht in jedem Spiel, aber unter dem Strich war gelungen, was Löw sich erhoffte: auf dem Zenit zu bleiben. In der Qualifikation hatte Deutschland nicht immer geglänzt und doch als souveräner Gruppenerster das Ticket für Frankreich gelöst. Ähnlich lief es in der Vorrunde der Endrunde. Siege gegen die Ukraine und Nordirland sowie ein Remis gegen Polen bedeuten Platz eins und den Sprung ins Achtelfinale. Null zu drei hieß es dort aus Sicht der Slowakei; Deutschland, so schien es, näherte sich dem Niveau, mit dem es zwei Jahre zuvor Weltmeister geworden war. R E V A N C H E G E G E N I TA L I E N In den Tagen von Évian-les-Bains, wo das Team sein EURO-Quartier aufgeschlagen hatte, erlebten Spieler und Betreuer den Bundestrainer so selbstbewusst, offen- siv und offen wie nie. Als der gesamte Stab das Achtel- finale zwischen Spanien und Italien schaute, in dem der deutsche Viertelfinal-Gegner ermittelt wurde, gingen die Meinungen hin und her. Wer wäre der bessere Geg- ner, welche Spielanlage für das deutsche Team einfa- cher zu bespielen? Nur einem wars herzlich egal: dem Bundestrainer. Joachim Löw hatte die feste Überzeu- gung, dass nicht der Gegner, sondern seine Mannschaft darüber entscheidet, wer das Spiel gewinnt. Und als dann Italien als Gegner feststand, lief Löw mit erhobe- nen Armen und geballten Fäusten jubelnd durch die Flure des „Hôtel Ermitage". Der Bundestrainer strahlte, sagte und strahlte aus: „Jetzt schlagen wir die auch.“ Gesagt, getan. Im Elfmeterschießen setzte sich Deutsch- land gegen Italien durch, Jonas Hector verwandelte den entscheidenden Elfmeter und schoss Deutschland in die Runde der letzten vier. Wieder ein Halbfinale, wie- der gegen den Gastgeber. So wie zwei Jahre zuvor. Herzogenaurach, 30. Juni 2021. Am Abend zuvor war Deutschland im Wembley-Stadion gegen England nach einer 0:2-Niederlage im EM-Achtelfinale ausgeschieden, Löws letztes Spiel war damit gespielt. Schon vor der EM hatte der 61-Jährige seinen Abschied nach dem Turnier angekündigt, die Hoffnung, dass dieses Ende zeitlich zusammenfällt mit dem EM-Finale, erfüllte sich nicht. Nach einer Nacht mit wenig Schlaf stand Löw also ein letztes Mal Rede und Antwort. Die Journalisten bedankten sich bei Löw für die respektvolle, gute, seriöse Zusammenar- beit, es waren aufrichtige Danksagungen, keine Höflich- keitsadressen. Bei dem, was die Vertreter der Presse zu wissen begehrten, hatte der Kuschelkurs ein Ende. Gefragt Wäre Löw auf seiner letzten Pressekonferenz als Bun- destrainer nicht nach den schmerzhaftesten, sondern nach den schönsten Erlebnissen seiner Amtszeit gefragt worden, er hätte dieses Spiel genannt: Halbfinale 2014, das Ausnahmespiel gegen Brasilien. Er hätte darüber gesprochen, wie die Perfektion seiner Mannschaft ihn als Trainer beinahe überfordert hatte; darüber, wie viel es ihm bedeutete, dass die Brasilianer, als die Nacht zum Morgen wurde, zu Tausenden am Straßenrand standen und den Deutschen zujubelten; darüber, wie er den Res- pekt in ihren Augen erkannte, wie die Achtung vor der Leistung des Gegners größer war als die Enttäuschung über das Spiel der Seleção. Und er hätte gesprochen 1