30 D I E M A N N S C H A F T D F B - J O U R N A L 0 1 | 2 0 2 1 cher Freigeist und ich glaube, das strenge, durchgetak- tete und komplett auf Fußball ausgerichtete Leben in einem Internat wäre nicht das richtige für mich gewe- sen. Ich hätte Erfahrungen und Fehler nicht gemacht, die mir geholfen haben, der zu werden, der ich heute bin. Ich hatte einfach ein komplett normales Leben. Vielleicht hätte ich sonst mit 22, 23 gesagt: „So, Alter, und was hast du vom Leben bisher gehabt?“ Ich hatte damals den Fokus einfach noch nicht so wie heute, mir waren auch andere Dinge wichtig. Und das war für mich gut so. Ich habe auf der anderen Seite aber auch großen Respekt vor den Spielern in einem Nachwuchsleistungs- zentrum; dieser Weg ist bestimmt nicht leichter als der, den ich gegangen bin. Aber er führt häufiger zum Ziel. Haben Sie den Eindruck, dass Sie es schwerer haben, weil man Leuten, die man nicht kennt, erst mal etwas mehr Misstrauen entgegenbringt als Leuten, die man schon in den U-Teams oder der Bundesliga gesehen hat? Einfacher macht es das auf jeden Fall nicht. Die meisten Leute sehen ja meine Spiele in Italien oder in der Cham- pions League nicht und wenn dann mal Nachrichten nach Deutschland schwappen, dann, weil ich ein Tor geschossen oder eins aufgelegt habe … … was ja zum Glück nicht so selten passiert. Ja, zum Glück. (lacht) Was ich meine, ist: Die Erwartung, die die Leute an mich haben, ist die, dass ich knipse oder vorlege. Passiert das nicht, heißt es: „Ey, der Junge ist doch angeblich in der Serie A so krass unterwegs, warum macht der das nicht in der Nationalmannschaft? Ist der vielleicht gar nicht so gut?“ Würde ich in der Bundesliga spielen, hätten viele ein vollständigeres Bild von mir. Bergamo war lange nur eine kleine Nummer im euro- päischen Fußball, ist aber in den vergangenen Jahren zu einem enorm spannenden Team geworden. Wie ist dies zu erklären? Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Ich glaube, der entscheidende ist, dass wir seit vier Jahren weitgehend die gleiche Truppe haben. Im Jahr geht vielleicht mal einer, ansonsten ist die Stammelf beisammengeblieben. Das ist für eine Mannschaft fast schon essenziell, um erfolgreich zu bleiben. Wir sind ein eingeschweißtes Team, ich kenne jeden meiner Mitspieler in- und aus- wendig, weiß, welche Stärken er für mein Spiel mitbringt und welche Schwächen ich eventuell ausgleichen muss. Das hilft unheimlich. Wir spielen immer das gleiche Sys- tem und trotzdem können sich die Gegner bislang nicht darauf einstellen, weil wir einen ganz anderen Stil spie- len als alle anderen. Wir sind für keinen wirklich zu grei- fen. Wie sieht dieses System aus? Wir spielen ein enorm hohes Pressing, teilweise Eins- gegen-Eins über das gesamte Feld. Durch diese hohe Verteidigungslinie riskieren wir enorm viel Platz in unse- rem Rücken, entsprechend sind wir teilweise auch anfäl- lig. Wenn wir hoch pressen und den Ball erobern, sind wir aber früh mit vielen Spielern im gegnerischen Straf- raum. Das macht es für den Gegner sehr schwierig. Bei uns ist immer was los (lacht), wir bieten immer Spekta- kel. Unser Trainer sagt, er gewinnt Spiele lieber mit 5:4 als mit einem langweiligen 1:0. Das sieht man auch auf dem Platz. Im vergangenen Jahr wurde Bergamo zu einem Corona- Hotspot und Sie so eine Art Berichterstatter vor Ort. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Und wie haben Sie sie überstanden? Rückblickend war es die schwierigste Zeit meines Lebens. Acht Wochen in der eigenen Wohnung eingesperrt zu sein, täglich Berichte zu lesen, dass Bergamo eine Geis- terstadt geworden sei, Nachrichten von Familie und Freunden zu bekommen, die wissen wollten, ob wir noch leben – das war schlimm. Wenn ich daran denke, dass wir in dieser Zeit an dem Ort waren, an dem es zu dem Zeitpunkt vielleicht am schlimmsten auf der Welt war, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Diese Zeit hat mich gelehrt, was wirklich wichtig ist im Leben, näm- lich seine Liebsten um sich herum zu haben und zu wis- sen, dass sie gesund sind. Alles andere ist zweitrangig. Ich werde diese Zeit nie vergessen und will so etwas nie wieder erleben. Und doch glaube ich, dass ich gestärkt aus ihr hervorgegangen bin. Mein Blick aufs Leben ist auf jeden Fall ein anderer geworden. Wie meinen Sie das? Ich kann vieles jetzt ganz anders wertschätzen, vor allem die kleinen Dinge. Wir leben ja in einer absoluten Leis- tungsgesellschaft, in der es immer um „Höher, schnel- ler weiter“ geht und in der man im Grunde nie zufrieden ist. Wenn du aber acht Wochen mehr oder weniger ein- gesperrt bist, deine Familie und Freunde nicht sehen kannst, dann merkst du, wie besonders es schon ist, einfach mit Freunden in einem Café zu sitzen, einen Espresso zu trinken, sich zu unterhalten und eine gute Zeit miteinander zu haben. Das habe ich sonst immer als selbstverständlich hingenommen, so geht es mir bei vielen vermeintlich normalen und alltäglichen Dingen. Was empfinden Sie, wenn Menschen heute die Exis- tenz oder die Gefahr des Virus leugnen? Da fällt mir, ehrlich gesagt, nichts zu ein. Da könnte ich mich jetzt ganz schnell in Rage reden, das sind absolute Vollidioten. Ich war an einem Tag für einen Test in Ber- gamo im Krankenhaus, da lagen seitlich vom Eingang die Leichensäcke gestapelt, weil keiner wusste, wohin mit ihnen. Dann bekommt man noch mal ein ganz ande- res Bild als Leute, die weit davon entfernt leben und damit keine Berührung hatten. Die sollten sich, ver- dammt noch mal, glücklich schätzen, statt wider bes- seres Wissen zu leugnen, dass das Virus gefährlich ist. Dafür habe ich kein Verständnis. Wie haben Sie es geschafft, im letzten Jahr emotional im Gleichgewicht zu bleiben? Das war schon teilweise schwierig. Ich habe zum Jahr 2020 ein sehr ambivalentes Verhältnis. Sportlich war ich noch nie so erfolgreich, in der Hinsicht war es heraus- ragend. Was meine Werte angeht, war ich in den Top- 5-Ligen der beste Linksverteidiger, dann das Viertelfi- nale mit Atalanta in der Champions League, das Debüt in der Nationalmannschaft – unglaublich! Auf der ande- ren Seite dann diese Corona-Geschichte, die mich schon sehr runtergezogen hat. Aber ich habe versucht, positiv zu bleiben; und das ist schwieriger als es klingt. Ich war