97 bis ich gemerkt habe, dass das nicht ich bin. Es ist ein Findungsprozess, der noch heute nicht völlig abgeschlos- sen ist. Aber ich bin auf einem guten Weg und heute bes- ser als früher in der Lage, die wichtigen Entscheidungen meines Lebens selbstbestimmt zu treffen. Die Entschei- dung, die Karriere zu beenden, ist ein Ergebnis dessen. Bei Ihnen beiden gibt es sehr viele Parallelen. Gemein- sam Weltmeister, gemeinsames letztes Länderspiel, gemeinsam in Moskau, gemeinsames Karriereende. Neben diesen äußeren Daten haben Sie auch viele ähnliche Gedanken und eine ähnliche Einstellung zu verschiedenen Themen. Dies stellen Sie jetzt, nach der Karriere, fest. Wäre es hilfreich gewesen, die Gedan- ken des anderen schon früher zu kennen? Schürrle: In den meisten Fällen sind Mannschaftskolle- gen Kumpel, aber keine richtig guten Freunde. Und da ist das einfach so, dass man sich nicht komplett öffnet. Höwedes: Innerhalb einer Mannschaft ist es einfach schwierig, sich Schwächen einzugestehen. Diese Ebene hat man ja nur mit seinen besten Freunden. Wobei ich finde, dass man diese Ebene gar nicht unbedingt mit seinen Mitspielern erreichen muss. Was den Umgang mit Druck betrifft: Ich finde, dass es wichtiger ist, dass die Sportpsychologen innerhalb von Mannschaften und des gesamten Systems Profifußball eine noch höhere Akzeptanz bekommen. Der Austausch muss selbstver- ständlicher werden. Bei Schalke hatte ich oft das Gefühl, dass viele den Weg zur Sportpsychologin schon deshalb nicht gewählt haben, weil dies im Kollegenkreis als Makel aufgefasst worden wäre. Und das ist der komplett fal- sche Ansatz. Es ist doch kein Geheimnis mehr, dass der Kopf für die Leistung eine große Rolle spielt. Diese Res- source ist im Fußball immer noch zu wenig erschlossen, jedenfalls im Vereinsfußball. Wobei ich immerhin bei Schalke und Norbert Elgert festgestellt habe, dass er diesem Thema gegenüber sehr aufgeschlossen ist und bereits jungen Spielern den Denkanstoß liefert, dass sie auch am Kopf arbeiten sollen und dass das sehr hilfreich sein kann. Ist die Akzeptanz gegenüber sportpsychologischen Themen bei der Nationalmannschaft anders als im Verein? Schürrle: Würde ich sagen, ja. Ich war mehrfach bei Hans-Dieter Hermann und habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Wobei ich mir eine größere Sensibilität auch von den Trainern wünschen würde, und ich meine hier ausdrücklich nicht Jogi Löw. Ich glaube nicht, dass es ein Hexenwerk ist, zu erkennen, wenn es einem Spie- ler nicht gutgeht. Wenn ein Spieler seine Leistung län- ger nicht bringt und dies auch außerhalb des Bereiches gewöhnlicher Formschwankungen, dann liegt es nahe, dass die Ursachen keine physischen sind. Der vermeint- lich bequeme Weg ist es dann, den Spieler auszutau- schen, es sind dann ja andere da, die funktionieren. Hier wünsche ich mir einen Wandel. Dass die Verantwortli- chen mehr nachfragen, dass sie mehr in Kontakt mit den Spielern kommen, dass sie interessiert, was los ist. Ich finde, dass das ganz normal sein sollte. Ein Interview mit zwei Weltmeistern geht nicht ohne Frage zum WM-Finale. Herr Höwedes, Sie haben berich- tet, dass Ihnen nach dem Götze-Tor auf dem Weg zum Jubel und zurück die Tränen gekommen sind. Dabei war das Spiel noch nicht zu Ende. Haben Sie eine Erklä- rung dafür? Höwedes: Auf uns allen lag ein unmenschlicher Druck. 82 Millionen Deutsche wollten uns siegen sehen, jeder Einzelne von uns wollte es für die Mannschaft und für sich selbst, die ganze Welt hat zugeschaut, Milliarden Menschen. Als Mario das Tor geschossen hat, hat sich dieser Druck in Form von Tränen entladen. Ich weiß schon, dass das eigentlich zu früh war, aber es war nichts, das ich steuern konnte. Herr Schürrle, Mario Götze ist seither unter allen WM- Helden noch einmal in einer gesonderten Position. Und Sie wissen, dass diese nicht nur Vorteile nach sich gezogen hat. Hat er sich bei Ihnen schon mal beklagt. Nach dem Motto: Musstest du die Flanke unbedingt auf mich bringen? Schürrle: Nein, er hat sich mehrfach bedankt. Egal, was danach passiert ist und wie sich die Dinge entwickelt haben – für solche Momente, wie den im Maracanã, spielt man Fußball. Wir alle, auch Mario, empfinden es als unfassbares Glück, als Geschenk, dass wir Weltmeis- ter geworden sind. Daran gibt es nichts Negatives. Die- ses Ereignis, dieser Moment, steht auch isoliert. Was danach gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt, wird die Wertigkeit des WM-Titels aber niemals redu- zieren. Herr Höwedes, Sie haben mal gesagt, dass Sie ganz froh sind, dass Ihr Kopfball im WM-Finale an den Pfos- ten und nicht ins Tor gegangen ist. Höwedes: Mir glaubt das kaum jemand, aber ich meine es vollkommen ernst. Ich habe natürlich eine einfache Position, dies zu sagen – schließlich sind wir auch so Weltmeister geworden. Sie beide haben sinngemäß gesagt, dass Sie es span- nend finden, sich nach der Karriere neu kennenzuler- nen, als Nicht-mehr-Fußballer. Wie zufrieden sind Sie mit dem Menschen André Schürrle, Herr Schürrle; wie zufrieden sind Sie mit dem Menschen Benedikt Höwe- des, Herr Höwedes? Schürrle: Für ein Urteil ist es noch zu früh. Ich bin glück- lich, den Mut aufgebracht zu haben, diesen Schritt zu gehen. Ich merke jeden Tag, wie absolut richtig diese Entscheidung war. Langsam entwickle ich das Gefühl, das ich zu Beginn meiner Karriere hatte: Ich wache jeden Tag auf, bin gespannt, was passiert und habe große Lust auf die Dinge, die mich künftig in meinem Leben erwar- ten. Man sollte nie zu weit in die Zukunft gucken, aber wenn ich es doch tue, dann fange ich immer an, zu grin- sen. Es ist lustig, weil ich noch gar nicht genau weiß, was mir bevorsteht, aber ich weiß: Es wird gut. Und das ist ein großartiges Gefühl. Höwedes: Davon kann ich jedes Wort unterschreiben. Ich habe ein neues Leben begonnen und ich bin dabei, mich in diesem neuen Leben zu finden. Und auf die vie- len neuen Erfahrungen und Herausforderungen, die mich in diesem neuen Leben erwarten, habe ich richtig große Lust. I N T E R V I E W Steffen Lüdeke F O T O S (1, 3) Getty Images/Lukas Schulze, (2, 4) AS Marketing