34 A U S S E N A N S I C H T E N D F B - J O U R N A L 0 3 | 2 0 2 0 In Ihrer Mannschaft gibt es einige vielversprechende Talente, wie Nicolò Barella, Sandro Tonali, Federico Chiesa und Gianluigi Donnarumma. Oder Nicolò Zaniolo. Wie sehr trifft ihn sein zweiter Kreuzbandriss binnen eines Jahres? Nicolò ist eines der größten Talente, die Italien in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat - ebenso wie diejenigen, die Sie erwähnt haben, und andere wie Gaetano Castrovilli, Gianluca Mancini, Riccardo Orso- lini, Alex Meret, Pierluigi Gollini oder Alessandro Bas- toni. Es tut mir sehr leid für Nicolò, was er wieder einmal durchmacht. Ich glaube aber, es wird nicht schwer sein, ihn rechtzeitig zur EURO wieder bei uns zu haben. Er wird noch stärker und reifer zurückkehren, davon bin ich überzeugt. Wen sehen Sie Richtung EURO als Schlüsselspieler? Ich möchte keinen hervorheben. Ich gehe grundsätz- lich davon aus, dass diese Saison aufgrund des sehr vol- len Spielplans für alle schwieriger sein wird als die vorige. Alle unsere Spieler müssen sich darüber im Klaren sein, dass jeder von ihnen Besonderes leisten muss, um Ita- lien dabei zu helfen, einen Titel zu holen, den es zu lange nicht mehr gewonnen hat. Wenn das gelingt, funktioniert auch das Kollektiv. Deshalb glaube ich, dass es für mich eine schwierige Pflicht sein wird, eine Liste von 23 auszuwählen und dann leider jemanden zu Hause lassen zu müssen. Sie bestreiten am 11. Juni 2021 mit Italien in Rom das EM-Eröffnungsspiel gegen die Türkei. Wie sehr moti- viert das Sie und Ihre Spieler? Das motiviert uns enorm, da wir in unserem Stadion spielen werden, hoffentlich in einer heißen Atmo- sphäre und ganz sicher begleitet von großen Erwar- tungen. Ich weiß, dass wir alle mehr als zwei Jahre daran gearbeitet haben, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bereit zu sein, um es mit einem so ehr- geizigen Gegner wie der Türkei aufzunehmen. Wir werden beide auf dieses Spiel brennen, es wird für niemanden leicht sein. Ihre Gruppe mit der Türkei, der Schweiz und Wales gilt auf den ersten Blick als machbar. Mit welchen Zie- len fahren Sie zur EURO? „Machbar“ ist nicht das Wort, das ich verwenden würde. Ich glaube, dass es eine anspruchsvolle Gruppe ist. In der Weltrangliste liegen wir nicht weit auseinander. Und: Gegen einen Gegner wie Italien mit seiner großen His- torie zu spielen, ist für jeden eine große Motivation. Zu den Favoriten gezählt zu werden, ist schön – es bedeu- tet aber auch Verantwortung. Klar ist, dass wir nur zufrie- den sein können, wenn wir das Turnier gewinnen. Wen sehen Sie dabei als Ihre größten Konkurrenten? An erster Stelle Weltmeister Frankreich, das eine sehr erfahrene und gleichzeitig talentierte Mannschaft hat. Zusammen mit Belgien waren wir nach den Zahlen die besten Teams in der Qualifikation. Ich glaube aber, dass wir uns noch verbessern müssen, um gegen so große Konkurrenten wie Titelverteidiger Portugal, Spanien, England und natürlich Deutschland bestehen zu kön- nen. Sie verfügen über die Qualität, um Europameister zu werden. Was halten Sie davon, die Europameisterschaft bei ihrer nächsten Auflage in zwölf Ländern stattfinden zu lassen? Es ist gewiss der ehrgeizigste Weg, diese fantastischen 60 Jahre des europäischen Fußballs zu feiern. Das Tur- nier ist aus logistischer Sicht recht komplex, und ich glaube, dass es sowohl für die Mannschaften als auch für die Organisatoren aufgrund der derzeitigen Umstände nicht leicht sein dürfte, dies zu bewerkstel- ligen. Es besteht für mich jedoch kein Zweifel daran, dass dieses Turnier alles mitbringt, um zu einer der bemerkenswertesten Veranstaltungen der Sportge- schichte zu werden. Schon 1988 haben Sie ein EM-Eröffnungsspiel bestritten: das 1:1 gegen Gastgeber Deutschland im Düsseldorfer Rheinstadion. Welche Erinnerun- gen haben Sie daran? Ich habe fantastische Erinnerungen daran, da ich in diesem Eröffnungsspiel den ersten Treffer erzielt habe. Ich weiß noch, wie angespannt alle waren, da die Erwar- tungen auf beiden Seiten sehr hoch waren. Und sie bestätigten sich vom Anpfiff weg. Es wurde ein großes, spektakuläres Spiel. Nach einer sehr ausgeglichenen ersten Halbzeit, in der Gianluca Vialli für uns beinahe den Führungstreffer erzielt hatte, ging es in der zwei- ten Hälfte zunächst torlos weiter, bis Roberto Dona- doni Olaf Thon auf dem rechten Flügel den Ball abnahm und ihn zu mir in den Strafraum passte. Ich schoss den Ball mit rechts in die lange Ecke und rannte sofort los zum Jubeln, ein unbeschreibliches Gefühl. Leider gelang Andreas Brehme schon wenige Minuten später durch einen Freistoß, der durch die Mauer ging, der Ausgleich. Trotzdem: Was für ein Spiel zum Auftakt einer Europameisterschaft! Was macht Spiele zwischen Deutschland und Italien generell so besonders? Können Sie sich in der Welt ein inspirierenderes, packenderes Spiel vorstellen als das zwischen Deutsch- land und Italien? Können Sie sich andere Spiele vor- stellen, bei denen Leidenschaft, Strategie, Motivation und historische Rivalität auf dem Fußballplatz derart zu Tage treten? Es ist nichts anderes als das perfekte Spiel, von dem jeder träumt, es zu spielen, oder das er sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht ent- gehen lassen wird. Warum hat Italien dabei schon so oft die Oberhand behalten? In der Vergangenheit kann es daran gelegen haben, dass italienische Mannschaften taktisch flexibler waren. Der weltweite Wissensaustausch hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass sich der Fußball im techni- schen und taktischen Bereich im Grunde überall weiter- entwickelt hat. Heute kann man viele Gemeinsamkeiten zwischen dem italienischen und dem deutschen Fuß- ballstil erkennen, obwohl beide Mannschaften ihre eigene Identität bewahrt haben. I N T E R V I E W Gereon Tönnihsen I L L U S T R AT I O N Bernd Schifferdecker F O T O S (1) Reuters/Alberto Lingria, (2) Getty Images/Dean Mouhtaropoulos, (3) imago/kicker/Liedel