„EGIDIUS BRAUNS ART IST EIN GUTER WEGWEISER FÜR DEN DFB“

Kurt Beck und Egidius Braun, der eine Ministerpräsident und später SPD-Vorsitzender, der andere Schatzmeister und später DFB-Präsident, begegneten sich in den letzten Jahren regelmäßig. Qua Amt sozusagen. Beck und Braun erkannten bald, dass sie trotz rasant wandelnder Rahmenbedingungen den Kernbestand des Fußballs bewahren wollten. Kurt Beck, fast zwei Jahrzehnte Landesvater in Rheinland-Pfalz und nun mit 73 Jahren mitten im politischen Unruhestand, hat Mitte Mai 2022  in sein Büro im heimatlichen Steinfeld eingeladen. Und erinnert sich an „einen Mann, den ich sehr, sehr geschätzt habe“.

Herr Beck, werden Sie am Freitag zum Relegationsspiel gegen Dynamo Dresden auf dem Betzenberg sein?
Das schaffe ich nicht. Am Wochenende finden die Feierlichkeiten zu „75 Jahre Rheinland-Pfalz“ statt. Da gehört es sich, dass ein ehemaliger Ministerpräsident dabei ist.

Welche Bedeutung hat der Fußball für Sie persönlich?
Eine ganz große. Zum einen als Anhänger des 1. FC Kaiserslautern. In meiner Zeit als Landesvater lagen einige der großen Jahre, etwa der sensationelle Meistertitel 1998. Ich habe viele der „Helden von Bern“ persönlich kennenlernen dürfen. Horst Eckel natürlich, auch die Ungarn wie Ferenc Puskás und Nándor Hidegkuti über deren Besuche in Kaiserslautern. Neben dem Spiel selbst und manchmal auch der Nostalgie geht es aber auch um etwas anderes. Der Fußball hat aus meiner Sicht eine große Bedeutung. Er ist eines der einenden Themen in unserer Gesellschaft. Vom Direktor bis zum Wachmann, alle fühlen sich vom Fußball berührt und können mitreden. 

Sorgen Sie sich um diese integrative Kraft des Fußballs?
Ich bin nicht naiv, das Materielle wird immer eine große Rolle spielen, aber manchmal meint man, es ginge nur noch um Rekordtransfers und hohe Spielergehälter. Das Spiel in der Kreisliga und der Champions League ist am Ende das Gleiche. Der Kampf, die Elemente des Spiels, die Freude, das ist alles gleich. Nur darf die kommerzielle Seite nicht irgendwann dazu führen, dass die Kluft zu groß wird. Das Gefälle vom FC Bayern München zum 1. FC Kaiserslautern ist enorm. Und wenn keine reale Konkurrenzsituation mehr vorhanden ist, wird es höchste Zeit, über Maßnahmen nachzudenken. Die Einführung von Play-offs in der Bundesliga fände ich aus verschiedenen Gründen falsch. Man sollte stattdessen über die Verteilung der TV-Gelder versuchen, wieder mehr Chancengleichheit herzustellen.

Egidius Braun war ein Mann des Ausgleichs, diese Rolle verkörperte er wie kein anderer in seinen 24 Jahren als Präsident und Schatzmeister an der Spitze des DFB. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Es gibt Menschen, mit denen man spontan eine Verständnisebene hat. Obwohl er eine Generation älter war als ich, ging es mir so mit Egidius Braun. Wir empfanden Vertrauen zueinander. Nach und nach entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, er bot mir das Du an. Egidius Braun war ein Mann, den ich sehr, sehr geschätzt habe. Sein Credo lautete ‚Fußball ist mehr als ein 1:0‘. Man muss ja sehen, dass sich der Fußball auch während Brauns Zeit an den Schalthebeln, in den achtziger und neunziger Jahren, stark verändert hat. Unser gemeinsames Verständnis aber war, dass es gilt, die Kernausstrahlung des Fußballs zu bewahren. Sicher wollte Egidius Braun nicht den Wettbewerb abbauen. Dass die Zeit der „Elf Freunde“ eher in die 1950er-Jahre gehörte, war ihm bewusst. Aber Braun hatte klare Grundsätze, er stand für Werte ein, in gewisser Weise durchaus für Ideale.

In wenigen Wochen beginnen die Fußball-Ferien-Freizeiten, mit denen jedes Jahr Jugendteams aus 75 Fußballvereinen zu einwöchigen Fußballcamps nach Malente oder Edenkoben eingeladen werden. Die Idee dafür stammt noch von Egidius Braun.
Neben der Rationalität, die es braucht, wenn man so ein hohes Amt wie das des DFB-Präsidenten bekleidet, geht es auch um das Herz. Das spüren die Menschen. Egidius Braun hat Herz und Verstand im richtigen Maße für die Führung dieses großen Verbandes ein­­gesetzt. Ohne dass er laut werden musste, strahlte er Führungskraft aus. 

Egidius Braun hat früh schon Jugend- und Sozialprojekte in Osteuropa und besonders in der Ukraine gefördert. Auch dies ist heute eine Säule der Stiftung. Ganz guter politischer Weitblick für einen Fußballfunktionär, oder?
Das hat ihn ausgemacht. Doch beim Weitblick blieb es nicht. Seine Erkenntnisse verdichteten sich in einer Haltung und mündeten in konkreten Handlungen. Man muss diese Projekte nicht als Monstranz vor sich hertragen und schon gar nicht darf man sie sich persönlich ans Revers heften. Egidius Braun machte dies alles genau richtig. Er hatte eine natürliche Führungskraft.

Sehen Sie in Zeiten von Krieg und Krisen die Gefahr, dass soziales Engagement auf die Streichliste gesetzt wird?
Die Gefahr ist da. Aber wenn wir erleben, wie die Bürgerinnen und Bürger etwa für die Ukraine spenden oder sich ehrenamtlich um die geflüchteten Menschen kümmern, erkenne ich eine ganz andere Entwicklung. Solidarität ist doch sehr angesagt. Ich hoffe, dass es weiter auf diese Seite kippt. Gerade jetzt dürfen wir das Soziale nicht vergessen oder zusammenkürzen. Wenn ich an die öffentlichen Haushalte denke, ist momentan unbestritten ein hoher Druck auszuhalten. Andererseits müssen wir hier aus Steinfeld nur ein paar Meter über die Grenze nach Frankreich schauen und schon wird klar, wo auch politisch die Gefahren liegen. Demokratie ist kein Selbstläufer. Aber wenn die Leute das Empfinden haben, dass auch schwierige Lagen gerecht gemanagt werden, haben viele auch die Kraft, selbst einen Beitrag zu leisten, ob in der Gewerkschaft, in Arbeitgeberverbänden, in der Kirche oder im Fußballverein.

Sie litten als Kind an einer Hauterkrankung und wurden im Dorf ausgegrenzt. Wie hat Sie diese Erfahrung geprägt?
Ich bin hier in Steinfeld aufgewachsen. Eigentlich gab es eine dörfliche Gemeinschaft, aber einige wurden ausgegrenzt. Wir hatten zwei Kinder mit Down­syndrom im Dorf, die durften weder in den Kindergarten noch später in die Schule gehen. Nein, die wurden hinter dem Hoftor versteckt. Ich kam per Kaiserschnitt zur Welt, erlitt eine Blutvergiftung, daraus entstand eine sehr starke Hauterkrankung, eine be­­son­­ders aggressive Form von Neurodermitis. Die Augenbrauen fielen mir aus, mein Gesicht sah eine Zeit lang schlimm aus. Man ist dann ganz schnell ausgegrenzt. Die Eltern befürchteten, ihre Kinder würden sich anstecken, also wurden alle Buben Messdiener, nur ich nicht. Ich bin dankbar dafür, dass ich die Kraft entwickeln konnte, mich dagegen zu wehren. Daraus hat sich bei mir ein lebenslanges Einstehen für soziales Miteinander entwickelt. Es hätte auch anders ausgehen können. Man hätte auch verzweifeln können.

Mit 73 Jahren befinden Sie sich mitten im politischen Unruhestand. Sie sind immer noch ein sehr politischer Mensch, kommentieren oft das politische Tagesgeschäft. Wie viel Zeit verbringen Sie heute noch auf Terminen oder im Büro?
Viel Zeit, meine Frau beschwert sich gelegentlich (lacht). Aber den Wesenskern als politischer Mensch kann man ja nicht einfach mit der Pensionierung abschalten. Ich habe mich ein Leben lang bemüht, einen Beitrag in der Politik zu leisten. Weil ich Ziele hatte. Gerechtigkeit bleibt für mich bis heute ein zentraler Antrieb. Ich habe fast 19 Jahre als Ministerpräsident dafür geworben, dass man sich neben Familie und Beruf auch im Ehrenamt einbringen sollte. Das muss nun also auch für mich gelten. Und dann ist es ja auch so, wenn man gefragt wird, kann man oft nicht Nein sagen.

Dann möchten wir Sie zum Abschluss des Gesprächs auch noch um eine sportpolitische Bewertung bitten. Der DFB hat einen neuen Präsidenten. Was muss unter Bernd Neuendorfs Führung angegangen werden, damit der Neuaufbruch beim DFB gelingt?
Ich glaube, es braucht eine Phase der Beruhigung nach innen. Diese Grüppchenbildung der vergangenen Jahre darf nicht wieder einsetzen. Bernd Neuendorf wird sicher darauf achten, dass die Bindung zwischen der Basis und dem Profifußball stabil ist und bleibt. Und an manchen Stellen darf man sich an der Art und Weise von Egidius Braun, wie er sie immer vorgelebt hat, gerne orientieren. Das scheint mir ein guter Wegweiser für den DFB zu sein.