78 5 0 J A H R E J A H R H U N D E R T S P I E L D F B - J O U R N A L 0 1 | 2 0 2 0 deten Foul fast eine Stunde mit einer schmerzhaften Schulterverletzung herumschlagen. Das eindringliche Bild vom jungen Kaiser mit dem Arm in der Schlinge, die ab der Verlängerung um seine Schulter hängt, gehört auch zum Erbe dieses Spiels. Es symbolisiert den unbe- dingten Kampf einer Mannschaft gegen das Pech – und das Unrecht, in das sie sich zusehends versetzt sieht. Die Italiener schinden Zeit, wo es nur geht, der Schieds- richter tut nichts dagegen und die Sonne brennt unbarm- herzig. Ganz besonders für die, die ein Tor aufholen müssen. Nach der Halbzeit kommt Libuda für Löhr, der erstmals seine weißen Glückssocken nicht trägt, worauf er seine unglückliche Leistung später zurückführen wird. Abwehrchef Schnellinger bittet Co-Trainer Jupp Derwall in der Kabine um ein Zeichen, wenn er nach vorne gehen soll – Schön erfährt von dem Geheimabkommen nichts. Dann Wiederanpfiff: für einen einzigen Sturmlauf. Overath trifft die Latte, der Schuss des zweiten Jokers Held, der Patzke ablöst, wird von Facchetti artistisch aus dem Tor geschlagen. Als Seeler nachsetzt, wird er umge- rissen. Es gibt wieder keinen Elfmeter. Die Massen spü- ren die Ungerechtigkeit, „Alemania“ kommt es tausend- fach von den Rängen. „Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück“, sagt Kom- mentator Huberty. A N W E I S U N G V O N D E R W A L L Als Italiens Torwart Albertosi Müller anschießt und der Ball auf der Linie tanzt, aber sich wieder vom Tor weg- dreht, gibt auch Huberty auf: „Es soll nicht sein.“ Es läuft bereits die Nachspielzeit. Nun kommt Schnellinger, Der- wall hat ihn mit Blicken nach vorne beordert. Schön hat es zwar gesehen, aber nicht verstanden und fragt seinen Assistenten pikiert: „Jupp, mit wem telefonierst du da?“ In der 90. Minute, als Schön bereits dem Sport-Informa- tions-Dienst an der Bank ein Interview gibt, macht sich das „Ferngespräch“ bezahlt. Grabowski flankt von links vor das Tor und der Mailänder wirft sich mit langem Bein in die Flugbahn des Balles. Er trifft, zum einzigen Mal in seinem Leben, für Deutschland. Hubertys Jubel ist Legende. „Schnellinger! Nein, nein, nein, nein. Schnel- linger. 1:1. Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben.“ In Deutschland schläft im Grunde niemand. Und wer es doch tut, wird gegen 0:45 Uhr vom Torjubel geweckt. Ein Kaufmann aus der Oberpfalz büßt dabei sein halbes Ohr ein, weil er vor Freude gegen eine Lampe gesprungen ist, die zersplittert. Ein Redakteur der „Bild“-Zeitung, der zu Testzwecken an ein EKG angeschlossen wurde, ver- zeichnet 139 Herzschläge in dieser Minute. „So erregt hatte sich noch nicht einmal der erste Mensch auf dem Mond gefühlt. Das Herz von Neil Armstrong schlug nur 120-mal in der Minute“, stellt das Blatt fest. Dabei kommt das Beste erst noch. Die unglaubliche Verlängerung, vor der die auf dem Platz liegenden Spieler massiert werden. Einige haben Wadenkrämpfe. Kaum hat sie begonnen, da wird Müller, dessen unerbittlicher Bewacher Rosato ausgewechselt wurde, munter. Nach einer Ecke schießt er Deutschland in Führung, mit ganz wenig Kraft, aber umso mehr Instinkt. Sein Kullerball nach einem Missver- ständnis in der Abwehr der Italiener verendet schier hin- ter der Linie. „Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt“, staunt Huberty, der eben noch gemutmaßt hat, dass eine Stei- gerung „ja wohl kaum noch möglich ist.“ Doch lange währt die Freude nicht. Stürmer Held treibt sich bei einem Freistoß in der eigenen Abwehr herum und wehrt einen Ball mit der Brust vor die Beine von Burgnich ab – 2:2. Nun haben die Italiener wieder Ober- wasser. Yamasaki übersieht ein Foul an Libuda, im Gegen- zug erzielt Riva das 2:3. Da stehen sie nun am Anstoß- kreis, Müller und Seeler, und Huberty bekommt Mitleid. „Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben.“ Fünf Minuten später sind sie es. Müller ist wieder zur Stelle, diesmal mit dem Haarschopf. Seeler hat mit seinem hochroten Kopf die Vorlage gegeben. N U R 1 4 S E K U N D E N Doch wer sich beim 3:3 ein Bier aus der Küche geholt hat, nimmt den ersten Schluck, als es schon wieder 3:4 steht. Vom Anstoß weg schlagen die Italiener zu. 14 Sekunden dauert das nur, und kein Deutscher kommt an den Ball, ehe der eingewechselte Rivera den Vorhang für dieses Drama schließt. Nun kommt auch diese deut- sche Mannschaft nicht mehr heran, sonst hätte es erst- mals in der WM-Geschichte einen Losentscheid über einen Finalisten gegeben. Der Schlusspfiff bei mittler- weile angeschaltetem Flutlicht kommt für die entkräf- teten Spieler einer Erlösung gleich, Domenghini muss sich sogar übergeben. Die Zuschauer erheben sich von ihren Plätzen, applau- dieren mit offenen Mündern. In Italien, wo man diese Partie nur „das verrückte Spiel“ nennt, finden spontane Straßenfeste statt. In Wolfsburg ziehen 2.000 italienische Arbeiter durch die Straßen und skandieren „Kartoffel kaputt – Spaghetti schmeckt gut.“ Sepp Maier dagegen will nie mehr Spaghetti essen, auch keine Pizza, so wütend ist er auf die Italiener. Bei anderen fließen die Tränen. Im Kabinengang weint Ersatzspieler Wolfgang Weber, im Bus Berti Vogts – obwohl die jubelnden Mexikaner Spalier stehen. Alle spüren: Sie haben Großes geleistet, und nicht immer muss man dafür gewinnen. Als Helmut Schön zur Pressekonferenz kommt, applaudieren die Journalisten. Dann sagt er: „Ich habe unendlich viel erlebt im Fußball, aber diese Partie gegen Italien war an Spannung nicht zu überbieten.“ Kollege Valcareggi stöhnt: „Ich bin zu alt für solche Aufregungen.“ So oder so ähnlich sprachen sie alle. „Das hier war das Größte, was ich bisher erlebt habe“, sagt Beckenbauer und Sepp Maier ist vielleicht der Erste, der es ausspricht: „Das war das Spiel des Jahrhunderts.“ T E X T Udo Muras F O T O S (1) imago/Sven Simon, (2) imago/Ferdi Hartung, (3–4) Picture Alliance/dpa, (5) Picture Alliance/Sven Simon