92 W U N D E R V O N B E R N D F B - J O U R N A L 0 2 | 2 0 1 9 Eckel erinnert sich an den Tag der Ankunft in Spiez: „Als wir zum Hotel einbogen, verschlug es uns erst mal die Sprache. Ein imposantes Gebäude, direkt am See. Wir haben uns alle sofort wohlgefühlt, von Anfang an.“ Mit seinen 22 Jahren war Eckel der zweitjüngste Spieler des Kaders, doch trotz seiner Jugend drückte er den Rücken durch. „Ich war nie eingeschüchtert. Ich habe immer das gemacht, was ich für richtig hielt, auf dem Platz und außerhalb. Und meistens war das auch richtig“, sagt er. Kurz nach neun Uhr abends kommt die Mannschaft an. Eckel bezieht mit dem Kölner Stürmer Hans Schäfer das Zimmer 301, zwei Zimmer entfernt von Fritz Walter und Helmut Rahn. „Hans war ein guter Zimmerkollege“, erzählt Eckel, beide hatten ähnliche Schlafenszeiten. Und beide rauchten nicht. Denn ein paar Spieler im Team holten später am Abend schon mal das Päckchen Glimm- stängel aus dem Versteck. „Herberger duldete das Rau- chen eigentlich nicht, doch er hat nie etwas gesagt“, sagt Eckel. „Natürlich waren den Freiheiten Grenzen gesetzt, doch der Chef vollbrachte das Kunststück und die schwierige Aufgabe, 22 erwachsene Männer so zu leiten und zu führen, dass sie sich nicht allzu sehr reg- lementiert fühlten.“ Statt der Kippen packte Eckel abends einen Schmöker aus, den er während der WM lesen wollte: Karl Mays „In den Schluchten des Balkan“. W I E D E R R E G E N Hier also, im vierstöckigen Belvédère mit dem maleri- schen Blick auf den Thunersee, bezog die deutsche Mannschaft Quartier. Inzwischen mehrfach renoviert, hat das Vier-Sterne-Haus nie seinen Charme verloren; mit seinen Giebeln, Erkern und zahlreichen Terrassen steht es bis heute für Komfort, Tradition, ein familiäres Willkommen-Sein. Das Mannschaftsfoto vom Endspiel- tag, am Abend nach dem 3:2 von Herberger signiert, hängt im Empfangsbereich an der Wand. Hoteldirektor Bruno Affentranger erzählt von einem wohlhabenden Unternehmer, der bereit war, einen horrenden Preis für das Bild zu zahlen. „Für ihn war es ein biografisches Symbol, es stand dafür, dass man von ganz unten wie- der ganz oben ankommen kann“, erzählt Affentranger. Doch das Belvédère verkaufte nicht. Keine Chance. 2019 ist Eckel wieder in Begleitung gekommen. Sein Schwiegersohn hat ihn gefahren, wie bei fast allen Ter- minen ist auch seine Tochter Dagmar, die im Herbst 2017 die Horst-Eckel-Stiftung errichtete, dabei. „Um meinen Vater zu ehren“, betont sie. „Wir setzen uns ins- besondere für sportbezogene Bildungsprojekte für Jugendliche und Sportangebote für ältere Menschen ein. Themen, die Papa bis heute sehr am Herzen liegen.“ Vater Horst trägt eine leichte Sommerjacke, sportlich- jung. Es ist kurz nach vier am Nachmittag, die Urkun- denverleihung beginnt erst gegen sieben. Genug Zeit für das Fotoshooting. Es beginnt zu regnen – muss ja eigentlich auch so sein – doch Eckel will von einem vor- zeitigen Beenden der Fotoserie nichts wissen. So war er immer: Die Dinge hat er gerne zu Ende gebracht. Nach den Fotos ist genug Zeit für Erinnerungen. Nicht nur an Spiez, an sein Leben, an die, die ihn weite Stre- cken begleitet haben. Im November 2017 starb Hans Schäfer, seitdem ist Eckel der letzte „Held von Bern“. Zeit seines Lebens hat er die Geschichte erzählt, und auch als er schon 60 oder 70 war, schaffte er es bei jun- gen Menschen, die selbst Brehmes Elfmeter nur aus Erzählungen kennen, ein Gefühl von Herbergers Füh- rungsstil, dem Geist von Spiez, der Bodenständigkeit und Bescheidenheit des Fußballs der 50er-Jahre rüber- zubringen. Als Herberger und später Fritz Walter gestor- ben waren, übernahm Eckel den Staffelstab und besuchte auf Bitte der Sepp-Herberger-Stiftung Galas und Ehrun- gen. Vor allem aber lebt er bis heute das Vermächtnis Herbergers und Fritz Walters mit seinen Besuchen in Jugendvollzugsanstalten. Bis heute erzählt er den meist jungen Strafgefangenen die Geschichte, wie ein Außen- seiter, eigentlich chancenlos, mit Fleiß und Kampf und Ehrlichkeit Weltmeister wurde. Immer hörten und hören sie gebannt zu. G E I S T Z O G E I N So wie wir heute. Zurück ins Jahr ‘54. Nach dem 3:8 gegen die Ungarn trafen Briefe aus Deutschland ein. Herberger wurde „Volksverrat“ vorgeworfen. Ein Strick kam mit der Post. Nach dem glänzenden 7:2 über die Türkei im Ent- scheidungsspiel um Platz zwei aber war Deutschland fürs Viertelfinale qualifiziert. Und der „Geist von Spiez“ zog ein ins Belvédère. Eckel sieht das als zu schwärmerische Deutung. „Auch schon vor Spiez waren wir als Mannschaft zusammengewachsen“, sagt er. Und dennoch: Der Zusam- menhalt in der deutschen Mannschaft erfuhr in Spiez noch einmal entscheidende Stärkung. Bekannt sind die Schwarzweißaufnahmen vom Kartenspielen, vom Tret- bootfahren auf dem Thuner See. In einem Becken fingen die Spieler Forellen mit der Hand. Beim Kegelturnier bekamen die Sieger von Herberger Bücher geschenkt. Auf Busfahrten wurde gemeinsam gesungen. Als vor dem Halbfinale die Musiker eines auf der Terrasse auftreten- den Orchesters kurz pausierten, übernahmen die Spieler. „Kohli setzte sich hinter das Schlagzeug, Helmut stürzte sich aufs Akkordeon, Max schnappte sich die Violine, Hans und ich setzten die Trompeten an“, erzählt Eckel in seiner Biografie „Die 84. Minute“ von einem Moment, „wie er ausgelassener nicht hätte sein können.“ „Ich meine, unseren guten Zusammenhalt hat man im Wankdorf gesehen“, sagt Eckel heute. Nach acht Minuten lagen die als unschlagbar geltenden Ungarn 2:0 in Füh- rung. Eckel sagt: „Eine Mannschaft, die nicht korrekt mit- einander umgeht, holt in einem WM-Finale nicht einen 0:2-Rückstand wieder auf. Da haben wir uns angeschaut und gesagt: ‚Komm, noch einmal, wir wollen das noch mal probieren.‘“ Keine Schuldzuweisung, kein Auseinanderfal- len, wohl auch deshalb spricht man vom „Wunder von Bern“. „Bei 0:2 gab es kein Fingerdeuten auf dem Platz. Das hätte Sepp Herberger auch nie geduldet“, sagt Eckel. Inzwischen ist er also 87 Jahre alt. Er spricht weniger, manchmal schont er sich, dann kann er auch einsilbig sein. Die Hüfte, die Knie, tägliche Schmerzen. Zum Abschied fragen wir nach dem Abschluss in Spiez, dem Abend, der letzten Nacht im Belvédère nach dem 3:2 gegen Ungarn. Wie der Weltmeister gefeiert habe, wollen wir wissen. „Wie halt so ein Abend ist“, sagt Eckel mit dem Ernst des hohen Alters. „Wir waren Weltmeister, das war eine tolle Sache.“ 1–2_Horst Eckel beim Blick vom Balkon seines alten Zimmers auf den Thunersee und mit einem von ihm unterschriebenen 54er-Ball.